Provenienzforschung und Digitalität

Ex libris van Ephraim Moshe

Da ein Stempel, dort ein Ex-Libris, da eine handschriftliche Schenkungsbeurkundung im Buch … Damit sind viele insbesondere ältere Bücher übersäht, die gefühlt seit hunderten von Jahren in der Bibliothek stehen. Die Bedeutung der Stempel, Einrichtungen, Anmerkungen und Personen ist verloren gegangen oder auch nur bedingt noch präsent.

Das lädt neugierige Menschen doch regelrecht zur (Nach-)Forschung ein. Und wenn das digital geht, um so besser, oder? Ich habe für mich versucht, den Text herunterzubrechen auf mein Verständnis und ggf. auf die Sicht aus einer Bibliothek heraus.

Sabine Lang berichtet im Blog „Retour : Freier Blog für Provenienzforschende“ über die Online-Paneldiskussion am Tag der Provenienzforschung (12.04.2023). Diese stellte die Frage „Wie hat sich Provenienzforschung durch die Digitalisierung verändert?

Erster wirklich guter Hinweis: Statt von Digitalisierung – das ist etwas, was aktiv betrieben werden muss, um einen digitalen Zustand zu erreichen, spricht sie von Digitalität. Hier ist der Prozess des Digitalisierens abgeschlossen und man kann sich mit dem Ergebnis, den digitalen Möglichkeiten beschäftigen.

Die bessere Verfügbarkeit und die Vernetzung von digitalen Inhalten macht natürlich die Forschung besser möglich, erlaubt aber aber auch die Stellung anderer Forschungsfragen.

Allein im Kontext zu NS-Raubgut sind zahlreiche Datenbanken entstanden, wie die Datenbank zum Central Collecting Point München1, zur Kunsthandlung von Julius Böhler2, die Datenbank Entartete Kunst3 oder German Sales, die digitalisierte Auktions- und Verkaufskataloge vorwiegend aus dem deutschsprachigen Raum enthält.4 Die digitale Verfügbarkeit der Quellen hat die Arbeit der Provenienzforschenden grundsätzlich verändert. Historisches Material ist nun für (fast) jeden/jede zugänglich und Recherchen können ortsunabhängig und schneller durchgeführt werden. 

Lang, Sabine: Wie hat sich die Provenienzforschung durch Digitalität verändert?, Retour (07.08.2023)
Anmerkung: Die Fußnotenzahlen verweisen jetzt direkt auf die Datenbanken und wurden am Tag der Veröffentlichung dieses Beitrags überprüft.)

Wo kommt die Digitalität in der Provenienzfroschung zum Tragen:

  1. Vermittlung von Provenienzforschung
    • Provenienzen online und umfangreicher, mit Sammlungsobjekt zusammen erfasst (nicht nur reine Metadaten zu einem analogen Objekt)
    • durch andere Angebote nachnutzbar, z.B.
      • Virtuelle Galerien (Verstreute Objekte verschiedener Sammlungen / Standorte mit gleicher Provenienz können virtuell als zusammenhängende Sammlung zusammengeführt werden, ohne dass dafür aufwändig Ausstellungen oder Besitzübereignungen organisiert werden müssen.)
      • Interaktive Visualisierungen (Objekte lassen sich auf digitalen Karten verorten und somit können ggf. Wege des Bestandes besser nachvollzogen werden)
      • Virtuelle Realität (Objekte können digital einem Rollen- oder Perspektivwechsel unterzogen werden, z.B. lassen sich sich virtuell von Jedem in die Hand nehmen und von allen Seiten betrachten.)
    • Soziale Medien für Vermittlung von Provenienzforschung, z.B. erreichen jüngere Zielgruppe auf X, Facebook, Instagram, YouTube -> Gefällt mir, Kommentarfunktion), aber auch Beschreibungen in Blogs (Wissenschaftskommunikation)
    • Auswirkungen:
      • Forschung vom Analogen ins Digitale gewandert, andere Formen der Vermittlung und anderer Zugang zu den damit verbundenen Themen,
      • Adressatenkreis und somit Reichweite vergrößert, damit aber auch Spagat zwischen Laien und Forschenden notwendig,
      • Anpassung an Notwendigkeiten der gewählten Medien (X mit 280 Zeichen, Videoformat bei YouTube, Aufbereitung bei Instagram oder TikTok),
      • mehr Bewusstsein für diese Forschung (öffentliche Förderung, Anerkennung, neue Stellen), aber ggf. auch Kontrollverlust über digitalen Umgang mit dem Forschungsgegenstand und den Erkenntnissen (höhere Emotionalität, die nicht zwischen Objekt, Forschungsarbeit und Ergebnis unterscheidet)
  2. Einbettung in multiple Kontexte
    • Zusammenführung Objekte an einer Stelle: Digitalisat des Objekt, Metadaten, Schlagwörter, Verortung auf Karten, Provenienz und Sammlungshintergrund, zusätzliche Informationen (Erklärungen, Anwendungsbeispiele, Verweise)
    • daraus entstehend unterschiedliche Zugangsmöglichkeiten
  3. Neue Fragestellungen
    • Einzug digitaler und neuer Methoden in die Provenienzforschung
    • Bearbeitung mit verschiedensten Methoden: quantitative Analysen, große Textcorpora, statistisch, Netzwerkanalysen, Topic Modeling, Datenvisualisierungen, maschinelles Lernen
    • Problem: fehlende Vollständigkeit und Erschließungstiefe, fehlende bzw. unzureichende Standardisierung der digitalen Informationen
  4. Für Forschende
    • neue Kenntnisse notwendig (Anwendungs- und ggf. Programmierkenntnisse, Ressourcenkenntnisse)
    • höhere Interdisziplinarität
    • mehr Kooperationen mit nicht rein geisteswissenschaftlichen Disziplinen (Informatik, Mathematik etc.)
    • zunehmende Öffentlichkeit(sarbeit), Wissenschaftskommunikation
  5. Ausblick – Künstliche Intelligenz (KI)
    • KI ist maschinelles Lernen und oft effektiver als menschliche Sissyphos-Arbeit
    • bereits im Einsatz: Analyse von großen Datenkorpora, Objekt- und Bilderkennung, Handschriftenerkennung und -analyse, Mustererkennung für Ähnlichkeiten, z.B. wenn Beschreibungen oder Autoren abweichen, handschriftliche Annotationen vorliegen, Transkription von Handschriften und handschriftlichen Archivalien
    • KI als Beschleuniger und Unterstützer in den typischen Prozessen der Provenienzforschung.
    • KI als Fälscher, z.B. durch bessere bildgenerierende Verfahren <– hier kann Provenienzforschung unterstützen, Fälschungen aufgrund falscher Provenienz etc. zu erkennen

In Bibliotheken hat diese Entwicklung ein höheres Bewusstsein geschaffen. So führt eine Öffnung der GND für verschiedene neue Zielgruppen zu einem höheren Bewusstsein für die Bedeutung der Normdaten im Rahmen eines Standardisierungsanspruchs, führt aber auch zu vielen neuen Herausforderungen.

  • mehr Flexibilität für die Nutzung
  • schnellere Anpassung an Nutzungsanforderungen
  • nicht mehr rein bibliothekarische Sicht, da Verwendung in diversen Kontexten erfolgt
  • höherer Bedarf an Normdaten = höherer Personalbedarf
  • höherer Abstimmungsbedarf in immer kürzeren Zeiten

Dass Provenienzforschung die Nische verlassen hat und in Bibliotheken gelandet ist, zeigen diverse neu geschaffene Projektstellen an Bibliotheken sowie Berichten über die erfolgreiche Arbeit, wenn Medien und Bestände an die ursprünglichen Besitzenden (Rechtsnachfolgenden) zurückgegeben werden konnten.

In der eigenen Arbeit hat dies natürlich auch Folgen, da verstärkt auf Stempel (auch sehr unscheinbare), Ex-Libris, handschriftliche Schenkungsbeurkundungen und Namen geachtet werden muss. Es war zwar schon immer ein Thema, aber das Bewusstsein dafür wird nachdrücklich geschärft, auch wenn ich selbst mit Katalogisierung und der Erfassung der Provenienzen nur mittelbar zu tun habe, aber oft dann doch als letzte Instanz zwischen Behalten und Aussondern stehe.

Ich empfehle auf jeden Fall den Beitrag von Frau Lang im Blog Retour zu lesen.

Lang, Sabine: Wie hat sich die Provenienzforschung durch Digitalität verändert?, Retour (07.08.2023)

Beitragsbild: Ausschnitt von Ex libris van Ephraim Moshe by Rijksmuseum is licensed under CC-CC0 1.0